Die Campus Zeitschrift der Hochschule Offenburg zu Professional UX

User Experience Testing in der Medizintechnik – Bedienschnittstellen auf die Bedürfnisse der Nutzer optimieren

Prof. Dr. Andrea Müller, Christina Miclau, M.A. – Hochschule Offenburg
Dr. Achim Hornecker, Dr. Hornecker Softwareentwicklung und IT-Dienstleistungen, Freiburg

User Experience Messgerät-Prototyp mit Bedienoberfläche Professional UX
User Experience Messgerät-Prototyp mit Bedienoberfläche Professional UX

Die Digitalisierung der Arbeitsbereiche in allen Branchen hat unwiderruflich neue Standards bei den Nutzererwartungen definiert. Während Benutzeroberflächen seit jeher Schnittstellen der Mensch-Maschine-Interaktion darstellen, hat sich dieser Aspekt in den vergangenen Jahren als eigenständiger Bereich von der darunterliegenden Technik gelöst. Unter dem Begriff User Experience (UX) ist ein ganzheitlicher Ansatz zur Untersuchung und Bewertung von Benutzerschnittstellen zu verstehen, der neben der rein technischen Basis auch Aspekte des Designs und der neurophysiologischen und neuropsychologischen Forschung umfasst.

Die Notwendigkeit zur Entwicklung eines solchen Ansatzes ergibt sich aus der zunehmenden Komplexität technischer Produkte und Anlagen im Rahmen der Digitalisierung und durch die zunehmende Regulierung in sicherheitsrelevanten Branchen wie beispielswiese Medizintechnik, Automotive, Energiewirtschaft und Industrie bis hin zur Einhaltung von Normen wie beispielsweise ISO 9241 (ergonomische Anforderungen), ISO 13407 (Benutzerorientierte Gestaltung interaktiver Systeme), ISO 14915 (Software-Ergonomie für Multimedia-Schnittstellen) und vielen weiteren.

Untersuchungen und Bewertungen von Bedienoberflächen werden durch Experten durchgeführt, die über ein hohes analytisches Verständnis sowie fundiertes psychologisches und gestalterisches Hintergrundwissen verfügen. Die Qualität der Resultate solcher Untersuchungen ist daher in hohem Maße von den Fähigkeiten der einzelnen Berater abhängig. Unterstützt werden UX-Untersuchungen durch Technologien wie z. B. Eye-Tracking, die bereits in der Marktforschung seit Jahrzehnten etabliert sind. Auch Messungen physiologischer Parameter wie Hautleitwiderstand oder Hirnströme sowie deren Kombination finden bereits statt. Hilfreich für die Forschung und Praxis wäre ein einheitliches System von Kennzahlen, das auf objektiven Messmethoden beruht und Entwickler von Benutzerschnittstellen in die Lage versetzt, eigene Bewertungen oder zumindest eine Vorauswahl ihrer Arbeitsergebnisse vorzunehmen.

Im Rahmen des ZIM-Forschungsprojekts Professional-UX wird derzeit eine Systemlösung zur Erfassung und Messung der User Experience auf Basis von Methoden modifizierter und angepasster Support Vector Machines entwickelt und evaluiert. Professional-UX als selbstlernende Systemlösung ermöglicht es die Bedienung interaktiver Oberflächen zu analysieren und zu optimieren.

Hersteller von Produkten mit Bedienschnittstellen zum Nutzer, wie z. B. Displays medizinischer Geräte, Bedienpanels von Produktionsmaschinen oder Steuerungssysteme der Materialwirtschaft, können mit Professional-UX eigenständig UX-Testings durchführen. Das System erfasst und analysiert die Mimik, Sprache und Blickverläufe der Nutzer während der Bedienung. Anhand der Messdaten werden negative Ausprägungen der Emotionen der Nutzer ermittelt. Basierend darauf können Reaktionen der Nutzer ermittelt werden, die auf mentale Beanspruchung, Verwirrung, Irritation und Unsicherheiten bei der Benutzung hinweisen. Folgenschwere Fehlbedienungen z. B. im Medizintechnikgerätebereich können durch nutzeroptimierte Schnittstellen verhindert werden.

Professional-UX wird zur Zertifizierung von Medizintechnikgeräten dienen, für die bisher kein standardisiertes Testverfahren existiert. So können Schnittstellen zwischen Maschine und Mensch auf die Nutzerbedürfnisse optimiert und Bedienfehler minimiert bzw. ausgeschlossen werden. Auch auf Internetangebote, wie Online-Shops und Homepages, kann die Professional-UX-Systemlösung angewendet werden.

Als Ausgangsbasis für die Bestimmung dieser Kennzahlen dienen Sensordaten, die von Eyetrackern, stereoskopischen Kameras und Mikrofonen gewonnen werden. Der Eyetracker dient zur Messung der Blickbewegungen. Mit Hilfe einer hochauflösenden Kamera wird das Gesicht des Nutzers erfasst und über Methoden der Gesichtserkennung (Mimikmessung) werden Parameter zur Bestimmung des emotionalen Zustandes bestimmt. Über Stimmanalysen werden weitere Parameter aus gesprochenen Sätzen des Benutzers während der Tests extrahiert.

Im Bereich Mimik kommt das standardsetzende Facial Action Coding System (FACS), welches als eine Grundlage der wissenschaftlichen Klassifizierung menschlicher Mimik dient, zur Anwendung. FACS erlaubt eine Kodierung der menschlichen Mimik aus 44 einzelnen Aktionseinheiten heraus. Ein wesentlicher Vorteil von Mimik als Indikator für das Erleben einer Emotion ist die Möglichkeit, aus der Mimik konkrete Emotionen „abzulesen“, selbst wenn die Emotion nur kurze Zeit anhält und schwach ausgeprägt ist. Alle Menschen, unabhängig von Geschlecht und Herkunft, bedienen sich des nonverbalen Kommunikationsmittels der Mimik, um ihre Emotionen auszudrücken. Dies geschieht zudem unbewusst, so dass etwaige Verzerrungen zu vernachlässigen sind. Neben Basisemotionen – also Emotionen, die kulturübergreifend einheitlich erkannt werden – lassen sich auch Mischformen der Basisemotionen, Emotionen unterschiedlichen Intensitätsgrades und sogenannte Mikroausdrücke unterscheiden. Diese Nuancen dauern mitunter nicht länger als eine fünftel Sekunde und fallen dem ungeübten Beobachter höchstens als Muskelzucken auf. Aber auch diese Mikroausdrücke transportieren Emotionen und sollen in Professional-UX betrachtet werden. Während eines Testings auftretende Mimik wird gemessen und in das Emotionsspektrum als positiv oder negativ eingeordnet. Anschließend erfolgt eine Zuordnung der gemessenen Emotion zu den Eye-Tracking-Daten zum Zeitpunkt der aufgetretenen Mimik. Die Messung, Analyse und Zuordnung erfolgt in Echtzeit.

Komplettiert wird die Messung der Emotionen durch eine mehrstufige Stimmanalyse. Think Aloud ist im Bereich User Experience Testings ein anerkanntes und weitverbreitetes Verfahren. Oftmals werden aber bei den entsprechenden Gesprächsanalysen nicht alle verfügbaren Informationen erfasst und verwertet. Professional-UX fokussiert neben Erfassung der Sprache via Think Aloud auch die einzelnen Stimmen der Teilnehmer. Die nonverbale Komponente, die über die Stimme transportiert wird, ist ebenfalls Träger von Emotionen und beinhaltet somit wichtige Informationen in Bezug auf User Experience.

Methoden des maschinellen Lernens bilden bereits seit langem einen Aspekt der Auswertung von Sensordaten. Während einfache Klassifikationsmethoden auf Basis maschineller Lernmethoden bereits in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelt wurden, gelang mit der Methodik der Deep Neural Networks bzw. Deep Learning ein Durchbruch insbesondere in den Bereichen der Sprach- und Bildverarbeitung. Diese Verfahren werden im Rahmen des Forschungsprojektes eingesetzt um Vorverarbeitungen im Bereich der Gesichts- und Stimmerkennung durchzuführen.

Mit Hilfe von Geometric Deep Learning-Methoden werden Verfahren zur Bestimmung von Kennzahlen aus Sensordaten zur Anwendung im UX-Bereich entwickelt. Hierbei werden Szenarien aus repräsentativen sowie simulierten UX-Situationen untersucht, die eine Basis für das lernende System bilden. Im darauffolgenden Schritt wird das System anhand von Benutzerfeedback auf einer breiten Basis von Anwendungsszenarien trainiert, bis ein stabiler Zustand erreicht ist. Die Eingabe von Feedback wird auch ein Merkmal des Endproduktes sein, so dass es möglich ist, das System auch im Hinblick auf spezielle Anwendungsszenarien des Kunden weiter zu trainieren und zu entwickeln.

Kontakt: Christina Miclau, M.A.